Vom Produkt-Lieferant zu erweiterten Geschäftsmodellen – Teil 3

Im Teil 2 meiner Berichtsreihe habe ich mich mit dem Thema Konnektivität eines Complete Fan System (CFS) befasst, und an dem Beispiel des IoT-Systems eine der Möglichkeiten einer SAAS-Lösung der Firma SH-Tools GmbH beschrieben. 

Voraussetzung für einige Digitale Geschäftsmodelle ist jedoch ein Digitaler Zwilling (Digital Twin), deshalb möchte ich mich im Teil 3 meiner Berichtsreihe nun mit dem Digitalen Zwilling befassen.

Ein Digitaler Zwilling wird allgemein als intelligente, digitale Repräsentation eines realen materiellen oder immateriellen Objekts beschrieben. Intelligent ist die Bezeichnung für die Fähigkeit von digitalen Zwillingen, Prozesse abzubilden, zu ermöglichen und zu optimieren. Dieses Verständnis wird zunehmend nicht nur bei der Firma LocLab Consulting GmbH in Darmstadt, um eine Dimension erweitert – die Geometrie. So versteht auch Dr. Ilka May, CEO von LocLab, unter einem Digital Twin, eine „dreidimensionale, objektbasierte und realitätsgetreue digitale Kopie, eines Objektes“ [1].  

In der Anwendung im Maschinenbau muss zumindest zwischen dem  Digital Product Twin  also dem virtuellen Abbild des Produktes und dem Digital Production Twin also den Produktionsmaschinen und –anlagen , NC-Programme und Prüfprogramme etc. zur Produktion des Produktes unterschieden werden.

Das größte Potenzial von intelligenten Digitalen Zwillingen, die die Fähigkeit besitzen, Prozesse abzubilden, zu ermöglichen und zu optimieren, liegt unbestritten im produzierenden Gewerbe. 

Das volle Potenzial digitaler Zwillinge entfaltet sich, wenn Zwilling und physisches Abbild zu einem sogenannten bidirektionalen System werden, d.h. die beiden Komponenten tauschen Informationen miteinander aus und können so zu einem sich selbst steuernden System werden. Die Verknüpfung verschiedener digitaler Zwillinge und ihrer realen Gegenstücke innerhalb einer einzigen Produktionskette wird auch als digitaler Faden (digital thread) bezeichnet.

Bild 26: https://www.computerwoche.de/i/detail/artikel/3544863/2/3222404/EL_mediaN10124/

Eine erfolgreiche Transformation erfordert eine durchgängige digitale Innovationsstrategie, um umfassende und präzise digitale Modelle von Produkten und Produktionsabläufen zu erstellen, um die Komplexität intelligenter Produkte und intelligenter Produktionsabläufe zu bewältigen. 

Diese Digitalen Zwillinge bieten bei entsprechenden Integrationskonzepten, wie Cloud-, ERP-, MES-, PLM- und IoT- einen detaillierten Einblick in alle Aspekte der Entscheidungsfindung für Produktentwicklung und Produktion bis zu den Industrial IoT-Performance-Erkenntnissen, die aus dem Feld (also aus den in Betrieb befindlichen Produkten und Anlagen)  gewonnen werden. 

Bild 27:Quelle: Bild UNITY AG

Nur dann – wenn diese digitalen Zwillinge mit einem konsistenten digitalen Thread verbunden werden – können Unternehmen die Kraft und Flexibilität erkennen, um die Entwicklung zu beschleunigen, die Fertigung zu optimieren und die Erkenntnisse aus dem Produkt- und Anlagenbetrieb zu nutzen, um die zukünftige Leistung zu verbessern.

Nun hängen der Aufwand und damit die Kosten der Erstellung von Digitalen Zwillingen von der Zielsetzung und Erwartungshaltung des Einzelnen ab. Denn trotz allen Potenzials ist eine erfolgreiche Einführung auf Unternehmens- oder Organisationsebene oft schwierig. Eine Marktanalyse aus dem Jahr 2020 unter 250 Ingenieuren, Designern, Produktmanagern und Führungskräften [2] bestätigt diese Einschätzung. Zu den häufigsten Hemmnissen und Blockern gehören demnach:

  • Keine Unterstützung durch das Management
  • Fehlender oder nicht verstandener Business Case
  • Unsicherheit, womit man anfangen soll
  • Finanzielle Hürden und mangelnde Bereitschaft zu Anfangsinvestitionen.
  • Mangelnde Integration vorhandener Software und Datenspeicher
  • Fehlendes Know-how zur Implementierung einer Lösung
  • Lösungen sind oft komplex und müssen aufwändig angepasst werden, kein „Off-the-shelf“ Produkt
  • Silohaftes Arbeiten, silohafte Datenstrukturen, silo-hafte Budgets, Verantwortungen, Zuständigkeiten – Silos sind das Gegenteil vom Digitalen Zwilling!

Wie kann also eine skalierbare und marktfähige Lösung aussehen, um verschiedenen Nutzern digitale Zwilling für eine möglichst große Bandbreite an Anwendungsfällen zur Verfügung zu stellen? Mit dieser Frage hat sich auch das Unternehmen LocLab aus Darmstadt eingehend beschäftigt und setzt voll auf Kosteneinsparung durch Technologie, Automatisierung und KI bei der Erstellung digitaler Zwillinge von Bauwerken, Maschinen und Anlagen.

Der erste Hebel in die Kostensenkung ist die Verwendung möglichst niedrigschwelliger Eingangsdaten. Die Kosten für die Datenaufnahme können signifikant reduziert werden, wenn anstatt aufwändiger 3D Laservermessung eine Produktion der 3D Modelle auf Basis von Videos erfolgt, die mit einfachen Aktion-Kameras aufgenommen werden, wie man sie z.B. aus dem Sport kennt. Aus den Videoaufnahmen werden in einem semi-automatisierten Verfahren datenschlanke Vektormodelle errechnet. Eine Muster- und Objekterkennung sorgt anschließend für die Semantisierung, also die objektbasierte Datenstruktur der Modelle.

Bei der Verwendung von Videos aus Mobilgeräten oder Action-Kameras werden in der LocLab Methode zunächst über einen speziellen Algorithmus in einem zweistufigen Verfahren Tiefenwerte errechnet.  Um die entstandene Punktwolke zu kalibrieren, wird lediglich ein zusätzliches Referenzmaß benötigt, das im einfachsten Fall mit einem Laser Distanzmessgerät erhoben werden kann. Die Genauigkeit der Tiefenwertberechnung liegt im Innenraum bei ca. 5 cm, im Außenraum bei ca. 10 cm. Die Genauigkeit der Kalibrierung kann durch verschiedene Verfahren sogar noch erhöht werden, zum Beispiel durch Verwendung mehrerer videogrammetrischer Auswertungen zugleich, Erhöhung der Referenzmaße, den kombinierten Einsatz von Videokameras mit einem 3D-Laserscanner oder über eine Verringerung der Distanz zwischen der Videokamera und dem Objekt. Damit können für Maschinen, Anlagen oder technische Komponenten Genauigkeiten von < 1 cm erreicht werden, denn diese Objekte können in der Regel aus großer Nähe gefilmt werden.

Die entstandene Punktwolke, nun in der richtigen Skalierung, wird in ein texturiertes Dreiecksnetz, ein sogenanntes „Mesh“, überführt. Damit entsteht bereits ein 3D Modell, dies ist jedoch nur als Zwischenergebnis zu betrachten, da es noch keine qualifizierten Geometrien oder Objekte enthält.

In der Software-unabhängigen ToolChain von LocLab laufen zur weiteren Verarbeitung des 3D Modells eine Reihe von Algorithmen ab. Zunächst wird eine Kantendetektion durchgeführt, Vektoren werden erkannt und gesetzt. Mit Hilfe der Vektoren werden anschließend über die KI-gesteuerte Mustererkennung Objekte in den Videos erkannt, über ein punktförmiges Element räumlich positioniert und mit einem Attribut „Objekttyp“ versehen. Anschließend findet ein Algorithmen-basierter Abgleich der erkannten Objekte mit der LocLab Objektbibliothek statt, bei dem Instanzen aus der Bibliothek in die Szene eingesetzt werden. Die korrekte Lage und Größe der Objekte wird über Parametrik gesteuert. Das kann man sich so vorstellen: wenn man ein Fenster ohne Parametrik skaliert, also z.B. vergrößert, dann wird alles größer und breiter, der Rahmen und die Fensterfläche. Das ist aber nicht korrekt, denn Rahmen haben in der Regel genormte Breiten. Mit Parametrik bleibt der Rahmen in der genormten und korrekten Breite und nur die Fensterfläche wird vergrößert. Diese Vorgänge laufen vollautomatisch ab, sie müssen allerdings kontrolliert und gegebenenfalls korrigiert werden. LocLab haben mit diesem Verfahren eine ausgereifte Technologie aus der Spieleindustrie aufgegriffen und weiterentwickelt.

Im nachfolgenden Beispiel ist eine Szene aus einem Video zu sehen (Bild 28) und das in dem oben geschilderte Verfahren daraus erstellte digitale 3D Modell (Bild 29).

Bild 28:Quelle: Bildsequenz aus einem Video der Firma Konrad Reitz Ventilatoren GmbH & Co.KG

Das hier aufrufbare Video zeigt eine einfache Datenanbindung über eine Verlinkung von Dokumenten und einen Abruf von Objektinformationen aus einer Datenbank bei Anklicken. Ebenfalls durch Anklicken wird das Modell zur Explosion gebracht, was beeindruckend verdeutlicht welche Detailtiefe aus dem zur Verfügung gestellten Video und einer Teileliste im PDF-Format erzeugt werden kann. Sogar Barcodes sind lesbar und funktionieren im digitalen Modell.

Bild 29:Quelle: von LocLab Consulting GmbH erstellte digitale 3D-Modell
Bild 30:Quelle: Detailbild des von LocLab Consulting GmbH erstellte digitale 3D-Modell

Wie bereits zu Beginn der Artikels erläutert, ist es aber nicht die Genauigkeit der Geometrie oder der Lichtreflex des verwendeten Materials, die den Digitalen Zwilling für die Industrie wertvoll machen. Es ist die Struktur der Daten, die auch im 3D Modell vollständig abgebildet ist, die es ermöglicht, dass aus einem 3D Modell ein echter Digital Twin wird.

Digitale Zwillingen können vor Realem Zwilling existieren[3]

Digitale Zwillinge können auch schon vor dem Realen Zwilling existieren, zum Beispiel als Designmodelle künftiger Produkte. Und sie können dazu dienen, Daten aus dem Einsatz der Realen Zwillinge zu analysieren und auszuwerten. Sie haben unterschiedlichste Zwecke und Funktionen. Ihr besonderer Wert für die Industrie ergibt sich aus der Einsparung physikalischer Prototypen und der Möglichkeit, Verhalten, Funktionalität und Qualität des Realen Zwillings unter jedem relevanten Aspekt zu simulieren. Dieser Wert kann für alle Teile der Wertschöpfung über den gesamten Lebenszyklus von Produkten, Anlagen und Dienstleistungen genutzt werden. Ein Digitaler Zwilling nimmt verschiedenste Formen an. Er kann zum Beispiel aufbauen auf einem Verhaltensmodell der Systementwicklung, einem 3D-Modell oder einem Funktionsmodell, das mechanische, elektronische und andere Eigenschaften und Leistungsmerkmale des Realen Zwillings im Lauf einer modellbasierten Ausgestaltung möglichst realistisch und umfassend abbildet.

Wenn dann reale Produkte und deren Digitale Zwillinge Daten austauschen, und diese Unmengen an Daten durch intelligente Datenanalyse verständlich gemacht werden, können neue Produkte mit rein virtuellen Entwicklungen bereits ohne reale Prototypen optimiert werden. Das verbessert die Effizienz, schont die Recourcen, beschleunigt die Entwicklung und Produktion, hilft auf Kundenwünsche einzugehen und fördert somit eine nachhaltig gesteigerte Wettbewerbsfähigkeit.  

Wie die Unmengen an Daten strukturiert und standardisiert werden könnten, damit befassen sich u.a. auch die Arbeitsgruppen „Referenzarchitekturen, Standards und Normung“ und „Sicherheit vernetzter Systeme“ der „Plattform INDUSTRIE 4.0“. Die aus Mitarbeitern dieser Arbeitsgruppen gebildete Task Force haben in dem Dokument „Was ist die Verwaltungsschale aus technischer Sicht?“ [4]. Welche Dokumente definieren die Verwaltungsschale (eng. Abk.: AAS für Asset Administration Shell) hierzu einiges zusammengefasst.  Nach Ansicht der Plattform INDUSTRIE 4.0 realisiert erst die Verwaltungsschale den Digitalen Zwilling.

Bild 31:Quelle: Plattform Industrie 4.0 Glossary http://4.0.iosb.fraunhofer.de/                                                                          Folie 8 aus der Präsentation „Die Verwaltungsschale im Detail – von der Idee zum implementierbaren Konzept“
Bild 32:Quelle: Plattform Industrie 4.0 Glossary http://4.0.iosb.fraunhofer.de/                                                                          Folie 10 aus der Präsentation „Die Verwaltungsschale im Detail – von der Idee zum implementierbaren Konzept“

D.h. also erst das Abbild eines Gegenstandes in Verbindung mit dem so strukturierten und kontrollierten Zugriff auf alle Informationen des Gegenstandes stellen den Digitalen Zwilling dar und bringen den wahren Nutzen und eröffnet die Möglichkeiten neuer, erweiterter, digitaler Geschäftsmodelle. Womit ich auch schon bei meinem nächsten Thema dem Product Lifecycle Management (PLM) bin. Den vor berichteten zwingenden Zusammenhang von Produkt und Produktdaten versucht die folgende Darstellung deutlich zu machen.

Bild 33:Quelle: PROCAD GmbH & Co. KG, Konrad Reitz Ventilatoren GmbH & Co.KG

Hierzu mehr im Teil 4 meiner Themenreihe „Vom Produkt-Lieferant zu erweiterten Geschäftsmodellen.“

Literaturhinweise

[1] May, Ilka (2021): KI-gestützte Erstellung digitaler Zwillinge von Infrastrukturanlagen.- In: Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur, Juni 2021, Heft 1, pp 221-227. Digital verfügbar:https://elibrary.narr.digital/article/99.125005/dtv202110221

[2] Engineering.com (Hrsg.) (2020): Are We Ready for Digital Twins?Engineering.com audience survey of perceptions and readiness.- online verfügbar: https://discover.3ds.com/sites/default/files/2020-01/are-we-read-for-digital-twins.pdf (zuletzt abgerufen 27.04.2021).

[3]  Auszug aus einem Bericht der Interessengemeinschaft SendlerCircle in der KEM Konstruktion vom 26.02.2019 siehe  https://kem.industrie.de/digitalisierung/was-ist-ein-digitaler-zwilling/?utm_source=email&utm_medium=newsletter&utm_campaign=nl26209click

[4] siehe das zum Download bereitgestellte Dokument: https://www.plattform-i40.de/PI40/Redaktion/DE/Downloads/Publikation/2021_Was-ist-die-AAS.html